Im August erwartet Euch und Sie ein Themenmonat zum Thema Gedenkstättenpädagogik. Den Auftakt bildet ein Interview mit Ulrike Zuda-Tietjen.

Gedenkstättenpädagogik – was ist das und für wen ist es eine geeignete Methode der außerschulischen Jugendbildung?

Ulrike Zuda-Tietjen, Jugendreferentin im Kirchenkreis Saar-Ost, beantwortet hier wichtige und interessante Fragen rund um diesen Themenkomplex.

Was ist Gedenkstättenpädagogik?

Gedenkstättenpädagogik ist eine Methode der politischen Jugendbildung bei der die historische Auseinandersetzung mit Gedenkorten im Vordergrund steht.
Diese Gedenkorte oder Erinnerungsorte können sehr unterschiedlich sein, z.B. Friedhöfe und Mahnmale aber auch Schlachtfelder, wie die in Verdun. In der Regel arbeiten wir an Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus. Dazu gehören ebenso die ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager.
Gedenkstättenpädagogik umfasst die historische und gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit den Orten, der Motivation der Täter und der Leiden der Opfer. Der Kontext wird erarbeitet, mit den zentralen Fragen: Was ist hier passiert? Wie kam es zu dem Ort? Während dem Besuch wird das intensiv bearbeitet und in der Weiterarbeit geht es darum den Bezug zur heutigen gesellschaftspolitischen Situation herzustellen. Gedenkstättenpädagogik ist also mehr als Erinnerungsarbeit, wie sie beispielsweise am Volkstrauertag geleistet wird. Das Gedenken erfordert es emotionale Trauer zuzulassen ohne die Teilnehmenden zu überwältigen. Die Arbeit mit Einzelschicksalen erfordert es, würdig zu gedenken und den Teilnehmenden eine eigene Haltung zu den Opfern und den Tätern zu ermöglichen.
Ein gutes Beispiel ist die Verlegung der bekannten Stolpersteine: Dabei wird zunächst zu den Opfern intensiv recherchiert. An den jeweiligen Wohnorten wird mit Hilfe der Steine an die einzelnen Biographien gedacht, es wird erinnert und so bleiben diese Menschen vor Ort im Gedächtnis.

Wie lange machst Du das schon?

Erstmals habe ich mich mit der Methode Gedenkstättenpädagogik während meines Studiums beschäftigt. 1985 habe ich an einem Seminar mit dem Titel „Frauen leisten Widerstand“ teilgenommen. Im Rahmen des Seminars haben wir die Gedenkstätte Bergen-Belsen besucht, die vielen bekannt ist, weil Anne Frank dort gestorben ist.“

Warum ist Dir diese Arbeit so wichtig?

Mir liegt daran zu erinnern, aber auch Informationen und Strategien zu vermitteln, wie man sich gegen Menschenfeindlichkeit zur Wehr setzen kann. Leider ist diese Arbeit ist nie zu Ende. Es wird immer neue Geschehnisse geben, an die man gedenken muss. Vielleicht denken wir in einigen Jahren an die NSU Opfer und daran wie es zu diesen Morden kommen konnte.

Warum liegt sie Dir persönlich am Herzen?

Ich habe als Kind selber Ausgrenzung erfahren. Als Siebenjährige kam ich in die Schweiz und in der Schule haben mir die anderen Kindern „Nazi, Nazi“ hinterhergerufen. Damit konnte ich damals nichts anfangen, wusste aber dass ich beschimpft wurde. Zu Hause habe ich nachgefragt und so schon früh von der deutschen Geschichte erfahren. Diese Konfrontation als quasi „abgestempelter Täter“ hat zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema geführt, die mich mein ganzes Leben begleitet. Ein weiteres zentrales Thema in meinem Leben ist Europa. Schließlich besteht meine Familie aus Schweizerinnen und Schweizern, meine Schwägerin ist Französin und meine Vorfahren kamen aus Schlesien (Polen) und Deutschland. Jede und jeder bringt die eigene Sichtweise auf die damalige Zeit und auf das heutige Europa mit. Deshalb ist für mich auch friedenspolitische Arbeit super wichtig.

Für welche Altersgruppe ist es geeignet?

Die Altersgruppe ist abhängig vom geplanten Projekt. Auch Kindern kann man bereits soziales Lernen vermitteln: Den Umgang mit anderen, die Vielfältigkeit der Menschen, den Umgang mit Fremdenfeindlichkeit, aber auch die Bedeutung in demokratischen Prozessen zu Entscheidungen zu kommen.
Fahrten in Gedenkstätten erfordern andere Voraussetzungen. Ich bin der Ansicht, dass es möglich ist mit 12-jährigen, die gut vorbereitet sind, Tagesfahrten nach Natzweiler-Struthof oder in das ehemalige SS-Sonderlager Hinzert durchzuführen. Genauso wichtig wie die Vorbereitung ist dann die Nacharbeit. Die Jugendlichen haben in diesem Alter schon recht viel Vorerfahrung mit der Thematik und eigentlich reicht ein gewisses Moralverständnis aus. Den Unterschied zwischen Gut und Böse kennen schon Kinder und die Größeren wissen auch bereits, dass sie selber für ihr Handeln Verantwortung tragen müssen.

Welche Gruppenformen sind wichtig?

Die Gedenkstätte Auschwitz sollte nicht allein besucht werden. Da ist es hilfreich eine Gruppe, Freunde oder die Familie dabei zu haben, einfach um sich gegenseitig trösten oder Fragen klären zu können. Dieser Rückhalt und der Austausch ist immens wichtig.
Die perfekte Gruppengröße für mich sind zwölf bis 16 Teilnehmende. Nach Auschwitz fahren wir meistens im Team mit 24 Jugendlichen, das ist eine gute Größe, die sich aber vor allem durch die räumlichen Gegebenheiten vor Ort etabliert hat. Das Seminar zur Vorbereitung dient dazu, dass sich alle wenigstens mal gesehen und ein wenig kennengelernt haben. Oft ist es so, dass sich zwei oder drei Jugendliche von einer Schule/Gruppe anmelden und sich dann auch entsprechend gut kennen. Auch mutige Menschen, die sich alleine anmelden, werden immer rasch integriert, aber Einzelanmeldungen sind die Ausnahme. Die Gruppe bietet Hilfe und Schutz auf der einen Seite, birgt auf der anderen Seite aber auch die Verantwortung zur toleranten Zusammenarbeit.

Wie werden die Jugendlichen vorbereitet?

Wir führen im Vorfeld ein Seminar durch, bei dem es darum geht viele Informationen zur Fahrt und zum Programm zu geben und damit etwas Ängste zu nehmen. Wir fragen aber auch nach den Erwartungen und Befürchtungen der Teilnehmenden. Ein weiterer wichtiger Bestandteil ist der historische Kontext und der aktuelle Bezug. Es ist vielen gar nicht bewusst, dass wir nach Polen fahren, wenn wir eine Studienfahrt nach Auschwitz unternehmen.
Hier versuche ich, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Polen ein, übrigens sehr schönes europäisches Land ist. Außerdem möchte ich auch ein wenig Vorfreude und Neugierde wecken, beispielsweise auf den Besuch der Stadt Krakau.

Was passiert bei der Nachbereitung?

Hier zeigt die Erfahrung, dass dieses Treffen von den Teilnehmenden nicht so ernst genommen wird. Für mich ist dieser Austausch aber aus zwei Gründen enorm wichtig: Zum einen dient es der Evaluierung und zum anderen muss auch oft die Einordnung der Teilnehmenden korrigiert werden oder über manches einfach nochmal zur Verarbeitung besprochen werden.
Bei der Evaluierung in den letzten Jahren wurde zum Beispiel der Besuch der Kunstaustellung in Auschwitz als eher unnötig empfunden. Das ist eine Rückmeldung auf die wir bei der Programmplanung reagieren.
Wir fragen auch nach: „Was hat berührt, mit wem haben sich die Teilnehmenden ausgetauscht und was hat noch länger beschäftigt?“ Manchmal befragen Teilnehmende nach der Fahrt die eigenen Familienmitglieder und die Bandbreite der Reaktionen ist enorm groß. Wir hatten eine Teilnehmende mit jüdischen Vorfahren dabei, die im Anschluss ihre Familiengeschichte recherchierte. Aber es gibt auch die Erfahrung, dass die Familie eher Unverständnis für das Interesse und die Fragen der Jugendlichen zeigt.
Viele Teilnehmende stellen bei der Nachbereitung die Frage: Was kann ich machen, wenn mir sowas heute begegnet?“ Und die Antworten fallen meist eher mutlos aus. Ich ermutige die Jugendlichen trotzdem etwas zu tun. Das müssen keine Heldentaten sein. Beispielsweise wenn jemand sagt ‚Auschwitz sei eine Erfindung‘, kann man entgegnen „Das sehe ich anders, ich war dort.“ Natürlich würde ich bei einer Schlägerei auch nicht einfach dazwischen gehen, aber die Polizei rufen kann ich immer. Oder man holt sich Hilfe und spricht Passanten an.“

Kann jede*r mitfahren, oder sollten gewisse Eigenschaften vorhanden sein?

Jede und jeder mit Interesse kann mitfahren. Es sollte aber niemand gezwungen werden!

Was war Dein bisher persönliches Highlight?

Die Zeitzeugen waren für mich immer sehr beeindruckend. Ich habe ja auch viele verschiedene Menschen, Frauen und Männer, erleben dürfen. Außerdem hatte ich ein weiteres Erlebnis, dass ich nie vergessen werde: Vor einigen Jahren war ich mit Teilnehmenden der Gemeinschaftsschule Sonnenhügel in Auschwitz und bei dieser Gruppe waren auch viele Muslime und Muslima dabei. Diese haben mich vor allem deshalb beeindruckt, weil sie schnell nicht mehr davon sprachen, dass Juden oder Polen umgebracht wurden, sondern sagten ‚hier wurden Menschen umgebracht‘. Mit dieser Gruppe sprachen wir an der Todeswand zuerst das Vater Unser und dann hat ein Jugendlicher das muslimische Totengebet gesprochen– das war für mich sehr bewegend.

Hat sich in den Gesprächen mit den Zeitzeugen etwas verändert, da die Erinnerung einfach verblasst und die Menschen auch älter werden?

Ich kann feststellen, dass sich manche Erzählungen der Zeitzeugen sehr ähneln. Allerdings haben die Zeitzeugen ja auch alle Schrecken im Konzentrationslager erlebt.
Aber es scheint sich auch beispielsweise von der Ankunft im Konzentrationslager eine Legende, also eine Art „Story“, gebildet zu haben, die so nicht alle erlebt haben können, da es verschiedene Kommandanten gab. Dennoch sind diese Zeitzeugen wertvoll, denn was sie erlebt und überlebt haben ist einzig. Alle Zeitzeugen haben darüber hinaus einen starken Willen zur Vergebung und eine starke Bereitschaft sich für den Frieden einzusetzen gezeigt. Da die Gespräche mit den Zeitzeugen sehr anstrengend sind und zwar vor allem für die deutlich über 90 Jahre alten Zeitzeugen (aber auch für die Teilnehmenden) versuchen wir dies durch Workshops zu einzelnen Zeitzeugen auszugleichen.

Was wünschst Du Dir für die zukünftige Arbeit?

Ulrike Zuda-Tietjen: „Das auch andere Gedenkstätten von Gruppen besucht werden, beispielsweise Treblinka in der Nähe von Warschau, Majdanek bei Lublin oder Maly Trostenez in Minsk (Weißrussland). Es muss in den Blick genommen werden, dass das weitere Lern- und Gedenkorte sind und hierfür braucht man insgesamt noch mehr Kapazitäten – personell und natürlich finanziell.“

Interview: Wiebke Kopmeier

Wer jetzt noch mehr wissen will, erfährt an dieser Stelle in den nächsten Wochen mehr zu den einzelnen Fahrten, die die aej saar bereits anbietet und kann hier auf unserer Homepage unter Gedenkstättenpädagogik noch mehr lesen.

Wer individuelle Fragen hat, kann diese per Mail an lenz@aej-saar.de stellen.